Die zitternde Welt. Roman
MEINE MEINUNG
In ihrem historischen Roman „Die zitternde Welt“ erzählt die österreichische Autorin Tanja Paar eine bewegte und ergreifende Familiengeschichte mit all ihren Höhen und Tiefen. Obwohl diese fesselnde Geschichte in einem historischen Kontext eingebunden ist, behandelt sie dennoch ganz zeitlose, aktuelle Themen und spürt gekonnt dem Stellenwert von Heimat, Identität und Nationalität im Leben sowie den Auswirkungen von Flucht nach.
Der äußerst vielschichtige Generationenroman spannt einen weiten Bogen von den Jahren um die Jahrhundertwende um 1900 bis ins Jahr 1940. Die ereignisreiche Handlung führt uns ins wilde Anatolien und zu weiteren spannenden Orten im Osmanischen Reich, ins slowenische Kaarstgebiet während des Großen Kriegs, ins krisengeschüttelte Wien, nach Istanbul in Atatürks junger Türkei bis hin in den unwirtlichen Irak während des Ölbooms der 1930er Jahre.
Tanja Paar zeichnet anhand sorgsam recherchierter, historischer Fakten ein facettenreiches Panorama einer bewegten, von großen Umstürzen gezeichneten Zeit während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Gekonnt entführt sie uns in die faszinierend fremde Welt des Orients und lässt uns eintauchen in das blühende, exotische Leben im Osmanischen Reich zu Zeiten des Fin de Siècle. Zugleich verwebt die Autorin ihre Geschichte geschickt mit dem Zeitgeschehen jener Epoche; lässt uns am Bau der legendären Bagdadbahn und ihren unterschiedlichen Phasen teilhaben, dem fatalen 1. Weltkrieg, dem Zerfall des Osmanischen Reichs und den anschließenden, radikalen Umwälzungen, die schließlich eine Neuordnung von Europa und dem Orient nach sich zogen.
Der sehr vielschichtig angelegte Roman wird in zwei Teilen erzählt, die sich vom Schreibstil deutlich unterscheiden. Im ersten Teil erhalten die beiden Protagonisten Maria und Wilhelm zwei gleichberechtigte Erzählstimmen, in denen wir ihre recht unterschiedlichen Persönlichkeiten und ihre Gedankenwelt allmählich besser kennenlernen. Maria, die beeindruckende weibliche Hauptfigur, ist eine willensstarke, selbstbewusste und lebenshungrige junge Frau mit sehr modernen Lebensvorstellungen, die an ihrem paradiesischen Zufluchtsort in der anatolischen Fremde ein selbst bestimmtes Leben führen möchte, in wilder Ehe lebt und sich viele Freiheiten herausnimmt. Wilhelm hingegen, Eisenbahningenieur bei der Bagdadbahn, erleben wir als einen nüchternen, pflichtbewussten Familienvater und Langweiler, der in seiner Arbeit für das zukunftsweisende Jahrhundertprojekt aufgeht.
Wie eine Zäsur empfindet man den zweiten Teil des Romans, in dem mit den beiden Söhnen die nächste Generation der Familie in den Vordergrund tritt. Verbunden ist dies mit einem Wechsel der Perspektiven und einem veränderten, oftmals fragmentarischen Erzählstil, der durch viele Auslassungen, Handlungs- und Zeitsprünge gekennzeichnet ist. Ein Umbruch in vielfältiger Weise und mit vielen Leerstellen, der die Lektüre nicht einfach macht, aber mit seiner Intensität dennoch in seinen Bann zieht.
Faszinierend und bedrückend zugleich ist es mitzuerleben, wie der plötzliche Wandel des Zeitgeschehens Marias Freiheiten, ihrer Unbeschwertheit und der euphorischen Aufbruchsstimmung ein jähes Ende bereiten und die Charaktere und ihre persönlichen Schicksale unentrinnbar in einen fatalen Strudel gezogen werden. Marias weiteres Leben wird bestimmt von äußeren Zwängen; Verluste und unabwendbare Schicksalsschläge bewirken eine dramatische Verwandlung ihrer Persönlichkeit. Schicksalhafte Wendungen fordern große Opfer, die einst glückliche Familie wird durch den 1. Weltkrieg zerrissen und ist zusehends einer Entwurzelung und Entfremdung ausgeliefert.
Abwechslungsreich und äußerst eindringlich erzählt sie eine bewegende und bedrückende Geschichte über Freiheit und Selbstbestimmung, Flucht, zerrissenen Familien, Tod, Neuanfängen, Verdrängung und Scheitern angesichts jener schwierigen Zeiten aber auch der verzweifelten Suche nach Glück oder Geborgenheit. Trotz des beklemmenden, realistischen Endes lässt die Autorin ihren Roman mit einem leicht hoffnungsvollen und versöhnlich stimmenden Epilog ausklingen. Mir werden die unvergessliche Romanheldin Maria und das bewegende Schicksal ihrer Familie, das sehr eindrücklich mit den zeitgeschichtlichen Ereignissen verbunden ist, noch länger in Erinnerung bleiben.
FAZIT
Ein faszinierender historischer Generationenroman, eine ergreifende Familiengeschichte und ein facettenreiches Panorama einer bewegten, von großen Umstürzen gezeichneten Zeit - vielschichtig, bewegend und mitreißend erzählt! Lesenswert!
Welt im Umbruch
Anatolien, am Ende des 19. Jahrhunderts. Maria folgt von Österreich aus uneingeladen dem Vater ihres ungeborenen Kindes in das fremde Land. Wilhelm hatte sich dorthin davon gemacht, um am Bau der Bahnlinie nach Bagdad mitzuwirken. Maria bleibt und lebt mit Wilhelm ein äußerst unkonventionelles Leben: lange ohne Trauschein, drei Kinder, von denen nur Maria genau weiß, ob sie von Wilhelm oder dem französischen Hauslehrer stammen. Mit dem Ausbruch des ersten Weltkrieges zerbricht auch die Welt, die sich Maria errichtet hat.
Bis hierher hat die österreichische Schriftsteller Tanja Paar in ihrem Roman „Die zitternde Welt“ ein eindringliche Atmosphäre rund um eine starke, exzentrische Frau aufgebaut. Maria ist der Enge und Provinzialität ihres Heimatortes Leonding entkommen. In Anatolien verspürt sie Freiheit und eine besondere weibliche Autorität. Die Beziehung zu Wilhelm ist durchwachsen, sie nimmt diese aber in Kauf, um dort ihr Leben nach ihrer Fasson leben zu können.
„Maria fühlte sich nicht als etwas Besseres. Im Gegenteil: Sie wusste, dass sie einfach Glück gehabt hatte, unwahrscheinliches Glück. Dass ihr das Osmanische Reich eine Tür geöffnet hatte in ein Leben, das sie als einfache Frau in Wien nie hätte führen können.“
Der Krieg verändert alles. Krieg zerstört Lebenswerke, Lebensträume, zerreißt Familien, macht heimatlos, arbeitslos, entwurzelt. Die Welt wird auf den Kopf gestellt, wie auch das Cover des Buches anschaulich darstellt. Der historische Rahmen, die Veränderung der politischen Gefüge, der Zerfall der Großreiche der Osmanen wie der Habsburger hat Marias Welt erzittern lassen.
Hier setzt ein Bruch in der Geschichte ein, nicht nur inhaltlich. Es verschiebt sich die Perspektive vor allem auf den Sohn Erich. Die Figur der Maria, die es wieder zurück nach Wien verschlagen hat, verläuft im Sande. Unmotivierte Zeitsprünge, Vorgriffe verwirren und lösen sich erst im späteren Text auf. Die Leserin muss sich selbst den zeitlichen Anker erarbeiten. Die Orientierungslosigkeit des männlichen Protagonisten überträgt sich auf die Leserin. Die Atmosphäre aus der ersten Hälfte des Buches fehlte mir dringend.